Beschreibung
Manchmal ist ein Leben voller Lügen leichter zu ertragen als ein einzelner Moment der Wahrheit …
Todesengel-Wahrheitsschmerzen: Jacob führt nur scheinbar ein zufriedenes Leben. Innerlich quält es ihn sehr, dass seine Mutter ihn verlassen hat. Und seit einem Jahr ist auch Sarah, seine Freundin, spurlos verschwunden. Als nun auch noch Rachel, seine kleine Schwester, entführt wird, bricht seine Welt vollends zusammen.
Was er nicht weiß: Es gibt nicht nur eine Welt in diesem Universum!
Christopher, sein bester Freund, führt ihn alsbald in eine Welt voller Magie, Mystik und Zauber. Dort begibt er sich auf die Suche nach Rachel und Sarah.
Wird er sie wiederfinden? Und welche Gefahren mögen wohl auf ihn lauern – in der sagenhaften Welt der Vampire?
Leseprobe
Es war wie jeden Tag in der Schulzeit. Man steht früh auf, zieht sich an, und manche, wie zum Beispiel Giulia, die Obertussipussi von der Schule schmatzi links, schmatzi rechts – würden bestimmt noch früher aufstehen, um sich zu schminken und zu frisieren. Für Jacob vollkommen unnötig. Er ging ins Bad, warf sich eine handvoll Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel: dasselbe Bild wie jeden Morgen. Jacob O`Malley hatte schokobraunes, kurzes Haar, eine makellose Nase und diese hypnotisierenden blauen Augen.
Diese Augen, die er so sehr verabscheute!
Er hatte seinen ganzen Körperbau, die Haarfarbe, eigentlich alles von seinem Vater. Außer seinen Augen. Diese himmelsblauen Engelsaugen. Wie er sie hasste! Sie waren das Einzige, was er von seiner Mutter hatte. Der Frau, die ihn, als er dreizehn Jahre alt war, also vor sechs Jahren, kaltblütig verlassen hatte! Er hasste seine Mutter noch mehr als seine Augen. Wie so oft, wenn Jacob diese Augen sah, fragte er sich: Wieso hat sie mich verlassen? Warum? War ich ihr nicht gut genug?
Er konnte diese Augen nicht länger ertragen und wandte sich ab. Ich hasse dich, Mutter! Er nahm seine Schultasche vom Bett und wollte runtergehen zum Frühstücken. Doch sein Blick fiel auf das Bild von Sarah, seiner Freundin. Er strich mit der Hand über das Foto und fragte in die Stille seines Zimmer hinein: „Wo bist du, Baby?“
Sarah war seit einem halben Jahr wie vom Erdboden verschluckt. Vor drei Wochen hatte man sie für tot erklärt. Jacob konnte es nicht fassen, dass man sie so einfach aufgegeben hatte. Er wusste, dass sie noch lebte, er konnte sie spüren … und noch viel mehr: Manchmal glaubte er, Sarah in einem alten, feuchten Kellergewölbe zu sehen. Sie saß in einer Ecke, und Tränen liefen über ihre Wangen. Während sie weinte, flehte sie ein Foto an: Bitte! Hol mich hier raus! Ich brauche dich! Hilf mir, mein Schatz! Seine Vision endete meistens damit, dass er sich das Foto über ihre Schulter hinweg anschaute. Ein Foto von ihm, Jacob.
Diese Träume waren anfangs nur in Vollmondnächten gekommen, danach in jeder Nacht, und seit gut einer Woche überfielen sie ihn auch am Tag.
Er hatte bis jetzt noch mit niemandem darüber geredet, außer mit Christopher, seinem besten Kumpel, und seiner kleinen Schwester. Mit den beiden konnte Jacob über alles reden. Über die Schule, den Hass auf seine Mutter und über seine Visionen. Er wandte sich von dem Foto ab und ging hinunter in die Küche.
Dabei kam er am Zimmer von Rachel vorbei, seiner kleinen Schwester. Er öffnete die Tür einen spaltbreit und sah ihr feines Gesicht, das von kastanienbraunen Locken umrahmt war – dem Haar seiner Mutter. Sie war trotzdem sein Ein und Alles, und er konnte sich ein Leben ohne sein Engelchen nicht vorstellen. Seine Mutter anscheinend schon, denn sie hatte Rachel ebenso verlassen wie ihn; nur das Rachel damals erst ein paar Monate alt gewesen war.
Rachel schien seine Anwesenheit bemerkt zu haben, denn sie blinzelte und schaute ihn mit ihren großen Kulleraugen an. Sie hatte die braunen Augen ihres Vaters. Diese Augen, die bis in seine Seele zu sehen schienen. Guten Morgen, Engelchen. Gut geschlafen?, fragte Jacob Rachel in Gedanken. Sie gähnte und setzte sich auf. Wunderbar, Jack.
Und wie hat mein großer Bruder geschlafen? Hattest du wieder einen Alptraum?, hörte er Rachel in seinem Kopf fragen. Jacob hatte eines Tages entdeckt, dass er in die Gedankengänge anderer Menschen eindringen und so deren Handeln beeinflussen konnte. Nur mit einigen Wenigen, wie mit Rachel und Christopher, konnte er auf diese Weise auch Gespräche führen, aber nur, wenn sie sich in einem Umkreis von nicht mehr als zwanzig Kilometern aufhielten. Jacob musste sich dafür nur auf ihre Präsenz konzentrieren und warten, bis sie ihn in ihre Gedanken einließen; etwas, das bei den anderen, die er kontrollieren konnte, nicht nötig war.
„Nein, heute Nacht hatte ich keine meiner Visionen. Machst du dich für die Schule fertig und kommst dann zum Frühstück?
Ich mach uns Eier und Toast“, sagte Jacob und lächelte sie an. Rachel sprang sofort aus dem Bett und eilte ins Nebenzimmer, das gleichzeitig ihr Kleiderschrank war, sah sich noch einmal nach ihm um und rief aufgeregt: „Worauf wartest du noch? Ich bin in fünf Minuten unten, und dann will ich gefälligst, dass mein Frühstück auf dem Tisch steht.“ Eier und Toast waren Rachels morgendliches Leibgericht; dafür ließ sie alles andere stehen und liegen. Jacob lachte und verschwand in der Küche. Während er Orangensaft, Kaffee, Teller und Besteck auf den Tisch stellte, erklangen von der Treppe her langsame, schwere Schritte. „Guten Morgen, Jack“, erklang die verschlafene Stimme seines Vaters hinter ihm.
Jacob drehte sich um und sah Eric, seinen Vater, mit Bademantel, Hausschuhen und zerzaustem Haar in der Küchentür stehen. Jacob grinste und fragte: „Gut geschlafen?“ Eric sah auf und nickte. Er ließ sich auf seinen Platz fallen und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Als er gerade die Tasse an die Lippen setzen wollte, waren auf der Treppe eilige Schritte zu hören, und ein kastanienbrauner Blitz stürzte auf den Tisch zu. „Wieso steht mein Eiertoast noch nicht auf dem Tisch? Ich habe doch gesagt, dass mein Frühstück in fünf Minuten fertig sein soll!“
Jacob und sein Vater warfen sich einen vielsagenden Blick zu
Dann begannen beide, schallend zu lachen. Rachel zog einen Schmollmund und rief: „Das ist nicht lustig! Ich habe das ernst gemeint! Jetzt hört schon auf zu lachen!“ Eric kratzte sich am Hinterkopf und verkniff sich das Lachen. Dann zeigte er auf Rachels Pullover und sagte: „Wie wäre es, wenn du dir erst einmal deinen Pulli richtig herum anziehen würdest. Und ich bin mir sicher, dass Jacob dein Frühstück auch heute rechtzeitig auf dem Tisch gehabt hätte, wenn sein Engelchen.“ „. nicht einen neuen Rekord im Anziehen und Herunterstürmen aufgestellt hätte. Außerdem ist das Ei schon fertig, und der Toast liegt auch schon bereit. Setz dich schon mal auf deinen Platz, Süße“, beendete Jacob den Satz seines Vaters und wuschelte Rachel durch ihr Haar.
Nach dem Frühstück ging Jacob ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Kurze Zeit später kam auch seine Schwester dazu. „Danke für den Toast, großer Bruder“. Als beide fertig waren, schaute Rachel ihren Bruder aus großen Augen an. Sie neigte den Kopf, so wie sie es immer tat, wenn sie mit ihm in Gedanken reden wollte. Während Jack nämlich jederzeit mit anderen Menschen in Kontakt treten konnte, war Rachel dazu nur in der Lage, wenn jemand in Not war.
Er verdrehte die Augen, bevor er sie schloss und Rachels Präsenz suchte.
Dann fragte er sie: Was ist denn, Engelchen? Wackelt schon wieder ein Zahn, oder wächst der eine so schnell, dass es wehtut? Sie schüttelte den Kopf und antwortete: Nein, mit meinen Zähnen ist alles in Ordnung. Ich wollte dich fragen, ob du mich heute mal in die Schule fahren könntest. Du sagst immer, dass wir das nachholen, und dann machen wir es doch nicht! Also: Fährst du mich hin? Bitte! Jacob kratzte sich am Kinn und willigte ein. „Meinem Engelchen kann man eben keinen Wunsch abschlagen!“, sprach er mit einem Lächeln im Gesicht und wuschelte Rachel noch einmal durchs Haar. „Also los, Engelchen. Sonst kommst du noch zu spät. Und wenn ich mich nicht irre, hast du heute mal wieder als Erstes Mathe bei Frau Ich-weiß-alles-besser. Die hatte ich auch mal – die ist furchtbar streng.“